Bekenntnisse und Bagatellen
Über die Musik des Mexikaners Sergio Cárdenas
von Michael Thumser
Lassen wir uns eine Geschichte erzählen, meine Damen und Herren,
und lassen wir zu, dass es eine schlimme Geschichte ist. Sie spielt in einem Land im Umbruch, gesellschaftlich durch Parteiengezänk zerrissen, gelähmt von Reformstau, betäubt von Beschwichtigungsparolen der Obrigkeit, geistig und geistlich auf mancherlei Holzwegen irrend. Von einem Dissidenten handelt die Geschichte, der nicht nur genug Zivilcourage hat, sondern auch den Zwang spürt, den Mund aufzumachen gegen die herrschenden Schichten und den herrschenden Zeitgeist. Hitzköpfig, wortgewaltig sieht er fünf Regierungschefs und ihren Regierungskrisen zu; und sieht endlich sein Land, das eine unkluge Bündnispolitik betreibt, von Feinden umschlossen. Der Rebell scheut sich nicht, den Teufel an die Wand zu malen: die entschiedenste Friedenspolitik fordert er, Appeasement, Demilitarisierung, kampflose Übergabe gar; anders sei dem Totalverlust der nationalen Identität nicht zu wehren. Als Wehrkraftzersetzer wird er festgenommen und unter entwürdigenden Bedingungen inhaftiert. Doch aufs Furchtbarste behält er Recht mit seinen Prognosen. Das Land wird überrannt, die Hauptstadt belagert und eingenommen, die Bevölkerung misshandelt oder getötet, zerstreut und verschleppt. Der Widerständler zeichnet im Exil die Denkwürdigkeiten seines Lebensweges auf und stirbt, fern der Heimat, die es nicht mehr gibt.
Wie aus dem 20. Jahrhundert klingt die Geschichte. Und doch trug sie sich, so oder ähnlich, vor über 2600 Jahren zu. Die Bibel erzählt sie uns: ihr Protagonist heißt Jeremia - der Unglücksbote ist einer der „Großen Propheten“. Ein hoffnungsloser Prophet, den der Lauf der Geschichte in all seinen Kassandra-Rufen bestätigte.
Auch Musik erzählt diese Geschichte; Sergio Cárdenas, dem wir den heutigen Abend widmen, erzählt sie uns. Und paradoxerweise, provozierend beinah steht über seiner Partitur ein Titel, der den Predigten des biblischen Schwarzsehers zuwiderzulaufen scheint: So I will hope. In seinem halbstündigen Oratorium für Solobariton, Chor und Orchester - das die Symphoniker 1999 hier in Hof uraufführten - verbindet er sechs Auszüge aus den „Klageliedern Jeremias“; die stammen zwar nicht vom Propheten selbst, fanden aber mit gutem Grund unter seinem Namen Eingang ins Alte Testament.
Tatsächlich berichten sie ganz in seinem Geist von Gottes Strafgericht über ein gottloses Volk: von der Zerstörung Jerusalems, dem Ruin des Staates Juda, der Babylonischen Gefangenschaft unter Nebukadnezar. Bewusst inszeniert Cárdenas die Unstimmigkeit zwischen dem Figurencharakter Jeremias und der Botschaft, die schon gleich der Titel seines Werks verheißt: Hoffnung; Signal auch für unsere, scheinbar aussichtslose Zeit. Die Botschaft, gewonnen aus Unheil, ist Heilsbotschaft.
Dabei erzählt der Komponist die schlimme Geschichte vollständig: insofern, als er dem Hörer auch die Verzweiflung nicht erspart. Mehr noch: in deren tiefsten Abgrund führt er ihn. Sozusagen mit dem auskomponierten Nichts hebt sein Oratorium an: ein schmerzhaft hoher Geigenton, vereinzelte perkussive Akzente anderer Instrumente; fahle Düsternis: klangliches Sinnbild für das verwüstete, „verwitwete“, verwaiste Jerusalem. Die hochgemute, hochmütige Prinzessin von einst kauert verlassen in Sack und Asche. Jene Situation, ein bewegungsloses Ereignis, hat Cárdenas in Atmosphäre übersetzt: Es ist die Vollendung eines Verhängnisses, von der er da mit schlichten Mitteln erzählt.
Leis lamentierend setzt der Chor ein, wie gelähmt erst, später sich ereifernd. Vorübergehend gibt das Orchester dem inneren Druck explodierend nach - und beteiligt sich dann doch, auch mit einer Kantilene der SoloTuba, an den Klageliedern der Vokalisten. Im zweiten Abschnitt ergreifen die Nachbarn Jerusalems höhnend das Wort: eilfertig zerreißen sie sich die Mäuler über die Zerschlagene. Das Schlagzeug beteiligt sich, der Chor klatscht in die Hände und pfeift - ganz wie der Text das vorsieht -, und der Solobariton schmäht mit einem Jazz-Gesang von hinterfotziger Fetzigkeit.
Solch erbarmungslosem Zynismus widerspricht anschließend ein zu Tode beruhigter Mitleids-Appell; dessen Tonsatz verflicht Cárdenas, von den tiefen zu den hohen Streichern aufbauend, in einer Fugen-Kontrapunktik von barocker Dichte. Der Chor schreit Jammer heraus - doch gleich darauf, in einem unvermittelten, dabei wunderbar schlüssigen Übergang, signalisieren spätromantische Orchesterakkorde trostreiche Milde: kündigen künftigen Trost an, während der Chor noch von Tränen und Trübsal singt. Abermals mischt der Bariton sich ein - und wechselt dafür die Rolle: nicht mehr als Zänker tritt er auf, sondern als Gnaden-Verkünder in einer Meditation, nur von Harfenarpeggien impressionistisch untermalt. So gibt er freundlich, friedlich das Signal zum Neuanfang, zum Neuaufbruch, den der Chor, aufgeladen mit positiven Energien, im marschartigen Finalsatz vollzieht. Am Ende steht festlich strahlende Harmonie in reinem Dur, beharrend wiederholt, viele Male, unumstößlich. Aus Hoffnung wurde Heil - „durch Nacht zum Licht“: es ist die alte, die gute Geschichte.
Noch nicht lange ist es her, ein Jahrhundert erst, dass wir Europäer die Musik anderer Kontinente gebührend zur Kenntnis nehmen: als Kunst. Freilich holten wir erschöpfend das Versäumte nach: überall präsent ist heute die Musik Nordamerikas, die Popularmusik der USA dominiert weltweit, aber auch ihre Kunstmusik spielt munter mit im globalen Konzert. Indes tönt von südlicheren Gefilden nicht eben viel bis zu uns. Lateinamerikanische Komponisten - mit welchen verbinden wir eine Hör-Erinnerung? Welche können wir auch nur aufzählen, spontan aus dem Kopf?
Zugegeben: die Tango-Welle der vergangenen Jahre versorgt uns nicht nur mit Klischees von schweißbeperlten Machos, die sich an spitzbrüstige Femmes fatales drängen; auch die Begegnung mit dem grandiosen Astor Piazzolla bescherte sie uns und die mit der unerwartet farbenreichen Klangwelt der Bandoneon-Kombos. Zugegeben: vom Brasilianer Heitor Villa-Lobos kennen wir die rhythmischen Schwelgereien seiner Bachianas Brasileiras, wohl auch sein Gitarrenkonzert - allerdings nehmen wir den weit avancierteren Hauptteil seines Riesenœuvres nicht wahr. Und immerhin: dass Alberto Ginastera, Argentinier wie Piazzolla, zu den Großen des 20. Jahrhunderts gehört, durfte das Hofer Konzertpublikum vor Jahresfrist ahnen, als ihm die Symphoniker mit seinem exquisiten Harfenkonzert kamen - wer aber, von unverbesserlichen Enthusiasten abgesehen, wollte sich brüsten, sich schon einmal seinen rauschhaften Balletten, den sperrigen Klavierkonzerten, seinen meisterlichen, aber vertrackten Streichquartetten konzentriert ausgesetzt zu haben?
Erst recht ist uns Mexiko eine exotische Fremde: jenes Land, darin Sergio Cárdenas 1951 zur Welt kam. Selbst Eingeweihte assoziieren hier am ehesten zwei Namen: Auf Silvestre Revueltas mögen sie stoßen, der 1940 an einer Mischung aus Verzweiflung und Trunksucht verendete, erst 41 Jahre alt. Als kämpferischer Sozialist wie als Komponist war er ein Rebell; mit rhythmischer Vehemenz schüttelte er die akademischen Vorschriften ab, vollzog in seiner Tondichtung Sensemaya einen afrokubanischen Beschwörungsritus nach und beschwor in der Nacht der Mayas die präkolumbische Vergangenheit der Urbevölkerung. Mit dieser Richtung neuerer mexikanischer Musik hat Cárdenas‘ Schaffen allerdings nicht allzu viel zu tun.
Auch Manuel Maria Ponce mag manchem Kenner in den Sinn kommen. Der, obwohl für die Volksmusik seines Landes sehr aufnahmebereit, durchlief doch eine gründliche europäische Schule (ließ sich vom Franzosen Paul Dukas unterrichten) und bevorzugte ein romantisch-impressionistisches, auch neoklassizistisches Idiom. Auf jenen 1882 geborenen, 1948 verstorbenen Tonsetzer bezieht sich Cárdenas in mehreren eigenen Produktionen ausdrücklich.
So dürfen wir uns fragen: Kann uns jemand fremder sein als Sergio Cárdenas - ein zeitgenössischer Tonsetzer aus Mexiko?
Er selbst vereinfacht uns die Sache. Denn er bleibt nicht im Lande: er kommt zu uns. (Vergessen wir nicht, dass er von 1985 bis 89 stabführend am Pult der Hofer Symphoniker stand.) Als komponierender wie als ausübender Musiker wechselt er weltbürgerlich zwischen Amerika, Europa, Deutschland: Cárdenas ist Internationalist. Seine künstlerische Heimat ist keine Nation, sondern die Musik des 20. Jahrhunderts. Freilich erfordert der Versuch, ihn hier zu platzieren, erst recht einige Umsicht.
Das 19. Jahrhundert hatte seinen überspannenden Epochenstil mit der Romantik. Das 20. Jahrhundert hat solche ,Schule‘ nicht gemacht: in ihm reicht das kompositiorische Spektrum vom Festhalten an romantischen Traditionen über die Abschaffung der Tonalität bis hin zur Demontage des Klangmaterials überhaupt - bis hin zum Verstummen von Musik. Auch in Sergio Cárdenas‘ Schaffen spiegelt sich jene Aufsplitterung von Stil in viele Stile, die Abwechslung oder Vermischung heterogener Ausdrucksmittel, das Zusammentreffen von überkommenen mit neuen, experimentellen Modellen.
Jenen Pluralismus veredeln wir gerne zu einer Epochenerscheinung: unterm Begriff der Postmoderne; und wir erkennen, dass in ihm die Gefahr oberflächlicher Beliebigkeit lauert. Mancher Kulturkritiker tut Postmodernes darum abschätzig als „Recycling“ ab. Andererseits dürfen wir durchaus neutral dazu stehen, wenn wir „Recycling“ wertfrei übersetzen: als Wiedergewinnung von Haltbarem aus einem Kreislauf heraus. Der Komponist Alfred Schnittke fand dafür einen von mehreren tauglichen Begriffen: „Polystilistik“ - die Vielfalt überlieferter und zeitgenössischer Schreibweisen in Gleichzeitigkeit. Cárdenas weiß diese Fülle fruchtbar zu machen: indem er in seinen Werken für historische Reibungen sorgt, sorgt er für aktuelle Spannungen zwischen Seelenzuständen.
Damit widerspricht er jener allzu selbstherrlichen Fortschrittspartei unter den Kunstschaffenden, die sich mit ihren Produktionen dem breiten Publikumsgeschmack bewusst verweigern, weil sie ihn pauschal für flach, genusssüchtig, kommerzverseucht halten. Auf sie zielt das populäre Vorurteil, „moderne Kunst“ bleibe grundsätzlich schleierhaft und elitär. Ein Vorurteil ist dies, weil sich ja auch das Gegenteil ereignet: weltweit machen Rundfunk und CD Musik pausenlos für jedermann verfügbar - eine Entwicklung, die von der Musik eine neue Verständlichkeit verlangt. In deren Lager reiht Cárdenas sich ein.
Ein ,moderner‘ Komponist ist er gleichwohl. Auch in seinen Werken ist das gestrige Grundgesetz der Dur-Moll-Tonalität vielfach aufgehoben. Die Dissonanz sehnt sich nicht länger nach Auflösung und hat sich auch in seinen Partituren vollständig emanzipiert. Die Partituren selbst verändern ihr Gesicht: die CD, zu deren Präsentation wir uns zusammengefunden haben, enthält mit den zwei Pfingstmotetten von 1975 Werke in grafischer Notation und mit aleatorischen, also Zufalls-bestimmten Elementen; ihre Aufführungen werden also von Mal zu Mal differieren.
Doch kehrt der Komponist immer wieder zu ,romantischen‘ Vorstellungen von Konsonanz, Wohllaut und Harmonie zurück. Den Rück-Schritt zu einer „Neuen Einfachheit“ - im Sinne etwa Arvo Pärts oder Henryk Góreckis - vermeidet er freilich. Mit den Reihentechniken des Komponierhandwerks ist Cárdenas selbstredend vertraut, aber er unterwirft sich ihrer fantasiefeindlichen Mathematik nicht, sondern verwandelt sie seinem Ausdruckswillen an. Denn Cárdenas‘ Musik drückt aus: als rein formaler Verlauf genügt sie sich nicht, sondern gibt Auskunft, nimmt Stellung - sie erzählt uns Geschichten. So behauptet sie sich als ,anspruchsvolle‘ Musik: als eine, die sich kraft ihrer Substanzhaltigkeit die ungeschmälerte Anteilnahme der Sinne ausbedingt.
Ans Konzertsaal-Publikum wendet sich solche Musik in der Regel. Dennoch sieht Cárdenas, einem weiteren Zug der Zeit folgend, über die vermeintliche Kluft zwischen E- und U-Musik hinweg. In seine Werke integriert er Elemente mittelamerikanischer Folklore und ebenso ,nordamerikanische‘ Stilmittel der Improvisation, des Jazz und Rock. Mal taucht dergleichen in Klangcollagen als Zitat auf und steht dann für sich, mal bindet es sich bruchlos ins Ganze ein.
Nicht einmal die Maulfertigkeiten des Rap enthält der Künstler uns vor. Stimmen von den hohen Bergen seines mexikanischen Heimatdistrikts Tamaulipas ließ Cárdenas, als Dirigent eigener Werke, vor gut einem Jahr in der Hofer Freiheitshalle laut werden: Da tigerte André Wilkens durchs Publikum, übers Podium - der stadtbekannte Rapper mischte dem orchestralen Rhythmusgemenge seine perkussive Stimme bei, trieb mit seinem skandierenden Mund-Werk die Symphoniker an, entspannte sich mit ihnen in kurzen Generalpausen - und legte von Neuem los: ein planmäßiges Sich-Abreagieren in mehreren Anläufen. Biedert sich Musik hier wendig dem Zeitgeist an? Oder lässt sich’s nicht auch verstehen als radikale Neuerfindung der „Gesangsszene“ klassischer Provenienz?
Sergio Cárdenas: in vielen Sätteln gerecht - kein wild gewordener Umstürzler. In der Vielgestalt und Vielteiligkeit seiner Musik drückt sich ein Wille zur Integration aus. Sie stellt Fragen an die Welt, aber sie will sie nicht zersetzen. Der Mensch findet in ihr zu sich, geht nicht fehl, kommt in ihr an ein Ziel. Einer Zeit, die uns so manchen Grund zur Beunruhigung gibt, hält Cárdenas einen Gegenentwurf der Sinnfindung vor, getragen von einem unüberhörbaren Grundton des Lebensgeistes und des Optimismus. Kein Werk könnte dies mit seinem Hergang ersichtlicher belegen als So I will hope, die unheilschwangere, Heil verkündende Jeremiade.
Selbst die scheinbar abgetane Kategorie der Schönheit findet wieder zu ihrem Platz und Recht. Freilich hat die Vokabel, wie Cárdenas sie verwendet, mit gefälligem Schönklang und kulinarischer Genießbarkeit nichts zu tun. Vielmehr meint er mit ihr - eigenem Bekunden zufolge - die „Ehrlichkeit“ eines künstlerischen Anliegens und die freie Kraft, es auszudrücken. Das „richtige Gewicht“ gehört dazu, „das jeder Ton an seinem Ort und im Verhältnis mit den anderen Tönen“ gewinnt. Und der Künstler versichert uns: Wo Tonkunst beanspruchen darf, in diesem Sinn schön und aufrichtig zu sein, da entwickelt sie „gewaltige und unwidersetzliche Wirkungen“, heilsam und reinigend. „Es gibt nichts Besseres für den Menschen als Musik“, resümiert er sein Glaubensbekenntnis. „Man muss ihr nur eine Chance geben.“
Sergio Cárdenas gibt ihr eine Chance; und gibt jenen eine, die seine Musik hören. Den Werken eignet eine eigenständige Tonsprache von gemäßigter Modernität sowohl wie der Zug geradliniger Nachvollziehbarkeit. So komplex diese Tonsprache auch formulieren mag - nicht als Konstruktion, sondern als Expression will sie erlebt werden. Seine Kunst ist poetische Ausdruckskunst, nicht offiziöse Affirmation, sondern persönliches Bekenntnis. Zu ihrem Anliegen tritt wiederholt der Impetus gläubiger Verkündigung - durchaus im spirituellen, wenn auch nicht so sehr im kirchlich-liturgischen Sinn.
Nicht erst im Jeremia-Oratorium lässt sich dies beobachten, auch in der unorthodoxen, 15 Jahre älteren Fassung des 23. Psalms: „Der Herr ist mein Hirte, mir wird nichts mangeln ...“, singt da der abenteuernde König David in einem getrosten Moment. Bei Cárdenas indes singt kein Mann, sondern eine Frau: Als „Zyklus vier religiöser Lieder für Sopran und Orchester“ führte er das Gebet aus. Der hohen Stimme gesellt er vielerorts hohe Streicher bei; und noch das voll besetzte Orchester führt er in weiten Teilen beinah kammermusikalisch. Verhaltenheit ist Ausgangspunkt im ersten „Lied“ wie auch im abschließenden vierten mit seinem weitläufigen Instrumental-Vorspiel. Nicht nur das gesungene Wort, auch das gesprochene macht Cárdenas zum Träger musikalischen Ausdrucks; nicht nur als gesungener Text, auch als textloser Ton ereignet sich Verkündigung. Feinnervig hat der damals 31-Jährige bereits dieses frühe Werk auf Klang und Farbe berechnet, subtil verdichten sich darin die Atmosphären.
Auch dem Psalm fehlen Klangballungen und -eruptionen nicht; doch behauptet er sich auch in seinen heftigen Passagen als eine im Grundtenor lyrische Bekundung, während das eher episch zu verstehende So I will hope mit der Zielstrebigkeit seiner inneren, der Breite seiner äußeren Entwicklung auf ,Handlung‘ setzt. Dramatik entfalten beide Werke, jedes auf seine Art.
Der Psalm - eine geistliche Solokantate? Die Jeremiade - ein Oratorium? Wir sollten nicht übersehen, dass Cárdenas den Klage- und Hoffnungsgesang, mit Absicht lapidar und vage, einfach als „Musik“ untertitelte. Um Sakral- und Vokalsymphonik eines Typus handelt sich’s, der mit den Schablonen des 18., des 19. Jahrhunderts wenig mehr zu tun hat. Für die geistlichen Gesänge der Enturia-CD macht sich der Komponist Gestaltungsweisen der Motette, des Chorals, des Madrigals zwar zu Nutze, aber er bekräftigt sie nicht fraglos, sondern wandelt sie ab: macht sie sich zu Eigen. An der Idee des Werks als etwas Kompletten und Abgeschlossenen hält Cárdenas fest; doch so wie sich seit dem 20. Jahrhundert die Grenzen zwischen den Gattungen und Genres unkenntlich verwischen, so hält auch er selbst sie offen.
„Musik“ also als umfassendste, sinnfälligste, unbestreitbarste Bezeichnung eines Tonkunstwerks: Bis zurück zu Béla Bartóks Musik für Saiteninstrumente, Schlagzeug und Celesta oder zu den Musiken Rudi Stephans (für Geige, für Orchester) lässt das denken - warum nicht gleich zurückgehen bis zu Händels Wassermusik? Cárdenas bedient sich der bündigen Benennung noch einmal, für ein Werk, das mit der Jeremias-„Musik“ immerhin den Umstand gemein hat, dass ein Bariton darin als Gesangssolist figuriert und dass es das bekenntnishafte „Ich“ im Titel führt. Ich höre das Licht herzschlagen ist der 1999 vollendete Zyklus überschrieben, der sieben Gedichte des mexikanischen Literaturnobelpreisträgers Octavio Paz in spröde Töne übersetzt; ein Liederkreis also - doch zugleich ein gestandenes Stück Kammermusik. Zwischen Textgebundenheit und absoluter Musik hält es sich schwebend auf - und gehört mit seiner geschärften, an Brüchen reichen, extreme Dissonanzen auskostenden Diktion gewiss zu den fortgeschrittensten Schöpfungen in Cárdenas‘ Werkverzeichnis.
Vielfach selbstständig voneinander agieren die Gesangsstimme, dazu Klarinette, Viola, Kontrabass; vorübergehend vereinen sie sich, um alsbald wieder weit auseinander zu driften. In höchste Tenor-, in tiefe Bassregister muss der Solobariton sich wagen und zeitweilig gar in Knurren, Keuchen, Flüstern verfallen: dann wird er selbst zum ,Instrument‘ jenseits der Sprache. Verschlossen, düster-nebulös raunt Paz‘ Poesie - demgemäß gibt auch Cárdenas‘ Musik sich unwirklich und schwer durchschaubar. Auf alle vordergründige Gefällig- und Versöhnlichkeit verzichtet sie, besinnt sich - wie gerade für Kammermusik kennzeichnend - auf ihre Strukturen, zieht sich in die Reflexion zurück. Dabei fällt ihr manches ein, was einem nur beiläufig Hörenden unbequem klingen mag.
Und doch scheut sie sich nicht, zu illustrieren: hintergründig lässt sie die titelgebenden Herzschläge pulsen, und später seufzen Atemzüge, beklemmend schwer. Einmal parodiert die Musik einen Walzer, ein andermal - am Ende - zerfällt sie in brüchige, fahle Licht- und Schattensplitter. Einmal reduziert sich der vokal-instrumentale Dialog auf eine Gesangslinie, angestupst von Bratschen-Pizzicati; dann wieder insistiert der Bariton mit einem eckig rhythmisierten, synkopierten Sprechgesang nach Art der Rap-Musik - eine Stilanleihe, wie sie uns schon durch die Stimmen von den hohen Bergen vertraut ist.
Lieder, Texte, Poesie: Abermals geht es Cárdenas, wie so oft, um unmittelbaren Ausdruck, um Botschaft. Abermals erzählt Cárdenas eine seiner Geschichten - eine überraschend finstere diesmal -, aber er legt sich nicht darauf fest, dass dies in jedem Fall ohne Umschweife, unzweideutig geschehen müsse. Alles Plauderhafte, redundant Daherfabulierte steht ihm fern. In seinen Paz-Vertonungen (die Enturia-CD enthält übrigens eine weitere) erstattet er dem Hörer Berichte, deren Inhalt und Sinn im Verborgenen blühen, im Dunkeln bleiben. Den „Nebel“, von dem unter anderem gesungen wird, lichtet er nie ganz. Und doch gibt auch diese Musik, bei aller Sprödigkeit, ihr Wichtigstes im Kern nicht auf: Anschaulichkeit, Bildkraft.
Vielfach ans Wort bindet Cárdenas seine Tonkunst. Was Wunder, dass auch die ,absolute Musik‘ seiner Instrumentalwerke sich nicht zur ,abstrakten‘ Musik verfremdet. Gleichsam gegenständlich bleibt sie, handelnd, erzählend, Klangrede.
Nicht zuletzt von Cárdenas‘ lateinamerikanischer Herkunft erzählt sie - auch hierin einem ausgeprägten Zug der Musik im 20. Jahrhundert folgend: Gerade in ihr fand ja authentische Folklore, Volkskunst der gewachsenen, nicht gekünstelten Art, so bindend wie nie zuvor Eingang in die Kunstmusik. Beispielhaft dafür stehen etwa, auf der neuen CD, die Eingangs-„Melodie“ Aleluya, Alelú - oder auch zwei kleinere, aber effektsichere Orchester-Piècen. Einmal die Grüsse aus Tamaulipas von 1987 - eine akustische Ansichtskarte jenes heimatlichen Bezirks, von dessen „hohen Bergen“ uns die schon skizzierte Rap-Komposition stimmstark berichtete. Erst die große Trommel, dann die kleine, dann schnarrende Flöten und Klarinetten führen uns einen Spielmannszug vor, alsbald schlägt die Stimmung ins Saftig-Süßliche um, und die Streicher und das Blech intonieren einen Walzer ... Als dekorative Orchester-Etüde gebärdet sich El Queretano, wieder ein Tanz, ein so genannter Huapango nun, brillant instrumentiert.
Lebendig lärmende Themen und Motive Anderer verwendet Cárdenas hier (der Herren Guillén und Bermejo nämlich) - wie er überhaupt aus seiner Verehrung komponierender Kollegen kein Hehl macht. So liegt der gefühlvollen Streicherfantasie Die Seele verwelkt von 1991 ein Thema Antonio Zuñigas zu Grunde. Namentlich aber der erwähnte Manuel Maria Ponce, als einer der bedeutendsten Tonsetzer seines Landes, tritt uns in Cárdenas‘ Schaffen entgegen: so in einer kleinen Tetralogie von Streicherminiaturen aus den Neunzigern, unter denen sich ein leichtherziges Mexikanisches Scherzino findet und auch, als lustvoll melancholisches Gegenstück, ein Cello-,Lied ohne Worte‘ unterm entsagenden Albumblatt-Titel Trotz alledem - allesamt feinsinnige Plaudereien im Ton des eleganten Salons.
„Bagatellen“ darf man dergleichen nennen - eine Bezeichnung, die in der klassisch-romantischen Musik bekanntlich Tradition hat und nichts Abwertendes besagt. Von solchen durch und durch romantisch-tonalen Produktionen fürs easy listening-Regal ausgehend, können wir in ein belangvolleres Spannungsfeld überwechseln: dorthin, wo vielsagend, gleichwohl im Ausdruck fasslich, mit Modernismen maßhaltend komponiert wird, ähnlich wie es Dmitri Schostakowitsch tat, um nur irgendeinen Großen zu nennen.
Zu jener hintergründigen Suite des Jahres 1998 führt der Weg, die unterm rätselhaften Titel Scheuerloser Stoff firmiert und deren Satzüberschriften, hintereinanderweg gelesen, beinah wie das Fragment aus einem kryptischen Gedicht von Octavio Paz anmuten: Blauer Rauch im Halbdunkel, Legende des Vollmonds, Ländliche Vitalität. Nachtstücke sind alle drei: gedämpft im Rhythmus, schonungsvoll in den Energien, schattig und vielfach abschattiert in den Farben, unterbrochen von Momenten des Innehaltens und Sich-Besinnens, des Suchens vielleicht. Solo-Violine, später Solo-Viola wagen sich hervor, ohne den eng geschlossenen Klangrahmen des Streicherensembles je ganz zu verlassen. Was sich hier an Emotionen an- und entspannt und in zeitweilige Bangigkeit sich versteigt, hat nichts Konventionelles und Plakatives mehr, sondern findet zu eigener, glaubhafter Intensität - und übrigens nicht zwingend zur Erlösung im Happy End.
Imponierende Stimmungskunst: Sergio Cárdenas entfaltet sie hier mit vergleichsweise bescheidenem, souverän beherrschtem Material. Vor allem durch kunstreiche Steigerungen, unheimliches In-der-Schwebe-Halten tut er’s. Phasenweise - und ganz ausgesprochen im Mittelstück - erinnert sie an den Deutsch-Amerikaner Claus Ogermann und seine ,postmodern‘ lyrische Neusuche nach Schönheit in Unschuld. Um Bagatellen, gepflegte musikalische Kleinigkeiten, handelt es sich keinesfalls.
Auch nicht bei der einsätzigen Fantasie Der geflügelte Bote für Flöte und Streicher von 1997. Aber doch hat ihr Schöpfer gerade sie als „Bagatela“ bezeichnet. Um was für einen Boten handelt es sich wohl? Um einen Falter oder Vogel? Oder doch um einen Gottes- und Himmels-Kurier, Seraph oder Cherubim? Jedenfalls hat er es eilig: geschwind getragen wie vom Schwung des Windes formuliert die Flöte die Botschaft ätherisch, duftig, flüchtig, trotzdem voller Wert und Wichtigkeit, mit Ernst, aber kameradschaftlich. In einer schwebend-ausufernden Kadenz lässt sie ihre Streicherbegleiter hinter sich, verlangsamt sich, dehnt ihren Tonraum aus, verbreitet ihre Stimme als Atem von großer Tragweite.
Scheuerloser Stoff, Der geflügelte Bote - nicht zufällig gab Cárdenas Werken wie diesen derart sprechende Titel. Mit Wörtern etikettierte er sie, die durch ihre Kombination eine Frage zu stellen scheinen und als Antwort vom Hörer die Bereitschaft zum Denk-Spiel begehren; oder die in ihm bildhafte, bewegte Vorstellungen evozieren. Nahe zur Programmmusik stellt sich solche ,absolute Musik‘ vorsätzlich und steht also dazu, dass auch sie einen Stoff, eine Handlung, womöglich gar eine Botschaft hat, einen Appell in sich einschließt - auch dann, wenn sie ihn nicht mit der Autorität eines König David, dem Nachdruck eines Jeremia an uns richtet.
Hören wir also Sergio Cárdenas und seiner Musik zu: lassen wir uns eine Geschichte erzählen. Nicht jeder Prophet kündet Unheil, und unter den Boten sind manche so freundlich wie Engel.
Michael Thumser ist Kulturredakteur der Zeitung „Frankenpost“, Hof/Saale. 30/06/2001
Michael Thumser es el Jefe de la Sección Cultural del periódico "Frankenpost", de Hof, Alemania.
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